Leben im „Slum“

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Ich möchte direkt zu Beginn klar stellen, dass ich nicht mit Sicherheit sagen kann, ob ich in einem „Slum“ war oder ob man es hier überhaupt so nennen kann. Ich bezeichne es jetzt erstmal als „Slum“, da mir dieser Begriff am ehesten einfällt, wenn ich an dieses Viertel denken.

Vor einiger Zeit hatten wir die Möglichkeit, das Leben von zwei ehemaligen Mädchen aus dem Kinderheim kennen zu lernen oder zumindest ihr Zuhause. Wir haben mit den Mädchen zwar nicht gearbeitet, aber sie haben in unserem ersten Monat in dem Haus gelebt, in dem wir wohnen. Sie sind ca. sieben und zehn Jahre alt und haben zwei Brüder, die sehr wahrscheinlich im Jungen-Kinderheim „Hogar Casa Jesus“ gelebt haben. Seit September leben sie nun wieder bei ihrem Vater.

Hermana Karmela hatte Jule und mich an einem Nachmittag gefragt, ob wir spontan Lust hätten, eine gute Tat zu vollbringen und bei der Familie der Mädchen etwas aufzuräumen und zu putzen. Es sollte nur maximal zwei Stunden dauern. Wir sind also mit ihr, Diego (er ist sowas wie ein „Familien-Unterstützer“) und ein paar Leuten von Diego zu der Familie gefahren. Die Fahrt dauerte ungefähr eine Viertelstunde und brachte uns in eine Gegend, die etwas „ländlicher“ ist. Die Straße, auf der wir nun runter in den „Slum“ fuhren, war ungepflastert und es fühlte sich komisch an, dort hinein zu fahren. Wir waren in Ecuador noch nie in solch einem Viertel gewesen und es schien mir auch, als wäre es zu gefährlich, einfach so dort als Weiße rumzulaufen. Die Menschen saßen vor ihren Häusern, die nur aus einfachen Betonwänden und Wellblechdächern bestanden, und sahen uns an. Wir fielen definitiv auf, das lag aber bestimmt auch an dem Auto. Wir waren nun mal nicht unauffällig. Zwischen den Häusern stand auch eine etwas heruntergekommene Schule und noch ein Gebäude, von dem wir nicht feststellen konnten, was es denn sein könnte. Es war ein komisches Gefühl und einmal hatte ich mir sogar etwas Sorgen gemacht, als Diego an einer Kreuzung hielt, an der ein paar ungepflegte Männer mit nackten Oberkörpern standen und uns anstarrten und irgendwie auch anlächelten. Auch die Hermana war beunruhigt und sagte Diego, dass er doch nicht an so einer Stelle halten könne und sofort weiterfahren solle. Verkehr gab es sowieso nicht, es schien, als wären wir die einzigen mit einem Auto. Kurz darauf waren wir aber auch schon da, die Kinder erwarteten uns schon am Tor.

Als wir ausstiegen, stellte ich sicher, dass mein Handy gut versteckt und nicht sichtbar an meinem Körper war, da wir auf Diegos Bitte nichts im Auto lassen sollten. Wir gingen dann durch das Tor und gelangten in einen kleinen ungepflasterten Hof, der zur Hälfte mit einem Wellblechdach bedeckt war. Von der Mitte aus waren verschiedene Wäscheleinen gespannt, die voller Wäsche hingen und auf dem Bogen lag Müll. Auf einem Tisch und paar Stühlen standen mehrere größere Eimer, die zum Teil mit Wasser gefüllt waren. Mein erster Eindruck war, dass es aussah wie auf den Bildern, die man bei Spendenorganisationen gegen Armut finden kann. Es war irgenwie erschreckend aber auf gewisse Weise auch interessant, dass es Menschen gibt, die wirklich so leben, weil sie kaum bis gar kein fließendes Wasser haben.

Als ich in das Haus ging, stand ich direkt im Wohnzimmer, wenn man es so nennen kann. Rechts ging ein Zimmer ab, das vom Vater, links von mir stand eine Kommode, auf der sich allerlei Schrott sammelte, daneben ein zweiteiliges Sofa – oder zumindest das Gestell davon. In der Mitte stand dann ein großer schwarzer Plastiksack. Die nächste Tür rechts gehörte zu dem Badezimmer, welches aus einer Dusche, einer Toilette und einem Waschbecken bestand. Nicht mehr, kein Shampoo, keine Seife, keine Zahnpasta oder Zahnbürsten. Vom Wohnzimmer ging man fünf Schritte nach vorne, schon stand man in der kleinen Küche. Zu ihr gehört ein Kühlschrank, ich habe mich nicht getraut, ihn aufzumachen, ein Spülbecken, in dem ein Eimer mit dreckigem Wasser stand, ein Herd mit Gasflasche und ein kleiner Plastiktisch mit Stühlen. Rechts ging es in das Kinderzimmer mit einem Hochbett, einem Schrank mit fünf Schubladen, ein paar Haufen Wäsche gemischt mit Schuhen und einer Decke, die vor dem kaputten Fenster hing.

Im Grunde war das ganze Haus dreckig und bis auf das Zimmer des Vaters gab es keine Ordnung, es sah auch nicht aus wie ein Zuhause, in dem man sich wohl fühlen könnte. Selbst die Schwester war schockiert über den Zustand. Wir fingen auch sofort an, das Kinderzimmer aufzuräumen. Während eine Frau, die uns begleitet hat, die Schuhe sortierte und aufräumte, Jule und ich die Wäsche der Kinder neu organisierten, (aus-)sortierten und einräumten, fuhr die Schwester mit Diego zurück, um noch Kisten und Kleiderbügel zu holen. Die Kleidung der Kinder war schon – man könnte sagen – ekelhaft; sie war nicht trocken, sondern sehr klamm. Viele Kleidungsstücke hatten auch seltsame Flecken und Löcher. Wir haben eine gefühlte Ewigkeit gebraucht und die Arbeit wurde nicht gerade leichter, als das ältere Mädchen zu uns kam und uns darauf hinwies, dass es in dem Haus neben Kakerlaken und Ratten auch Schlangen gab. Das hat mich bis in die letzte Sekunde in dem Haus verfolgt. Ich hatte nebenbei auch dauerhaft den Geruch von Gas in der Nase, angenehm war definitiv anders.

Wir waren mit der Wäsche noch nicht fertig, als die Schwester mit Diego zurückkam. Sie hatten ein paar Kisten, Kleiderbügel und sogar einen Duschvorhang mitgebracht. Sie sortierte dann mit den restlichen Leuten und den Kindern Spielzeug und Müll, und wir räumten das restliche Haus auf und entsorgten alles, was definitiv nicht zu gebrauchen war. Die Ecke mit einem Haufen an Plastikflaschen wurde nur ungern in Ruhe gelassen, da die Kinder drauf bestanden, dass ihr Vater sie sammelte, um sie später zu recyclen, genauso wie den Schrotthaufen auf der Kommode im Wohnzimmer, den er reparieren wollte, um das Gerät dann weiter zu verkaufen. Da konnten wir uns aber mit ihnen darauf einigen, ihn abzudecken, damit es etwas netter aussah. Jemand fand im Haus sogar einige Sportmatten, die dann für die Sofagestelle genutzt werden konnten, anschließend deckten wir diese mit Tüchern ab. Nachdem dann schließlich gewischt worden war, sah das ganze Haus schon viel besser aus. Es sah plötzlich sogar bewohnbar aus. Ich fühlte mich beim Hinausgehen erleichtert, das lag wahrscheinlich auch daran, dass ich nicht mehr diese klamme Luft in Kombination mit Gas in meiner Nase hatte.

Es war eine andere Erfahrung, die ich hier gemacht habe und letztendlich ich bin auch ganz „froh“ drüber, diese gemacht zu haben. Es hat mich aber auch ein wenig mitgenommen könnte man sagen, denn es schlafen vier Kinder in einem Hochbett und es gab kaum Essen in dem Haus. Die Kinder müssen alleine ihre Wäsche waschen und der Vater kümmert nur um sich und sein Äußeres. Es war hart, das zu realisieren. Hatte ich eigentlich erwähnt, dass der Vater während der ganzen Zeit, in der wir da waren, nicht anwesend war? Er hat die Feier einer Kirchengemeinschaft besucht. Ich hoffe, die Schwester oder Diego haben zu einem späteren Zeitpunkt mit ihm gesprochen. Es kann nicht sein, dass er seinen Kinder keine Hygieneartikel kauft, obwohl er es sich leisten könnte. Sonst hätte er die Kinder auch nicht zurück bekommen. Es regt mich wirklich innerlich auf, dass ein Vater seine Kinder so vernachlässigen kann, besonders, nachdem er sie schon einmal für eine Zeit „abgeben“ musste. 

Wir haben damit mal einen Einblick in eine schlechtere Seite von Ecuador bekommen. Es war auch ziemlich schockierend, zu sehen, dass es Menschen gibt, die wirklich so leben, wie die Medien es einem immer zeigen. Dazu muss man aber auch erwähnen, dass viele Menschen eben nicht so leben. Es gibt viele, die kein fließendes Wasser haben oder die öfters Stromausfälle haben, aber die ein Haus/eine Wohnung haben, nicht Müll und Schrott sammeln und sich Essen und Hygieneartikel leisten können. Sie leben im Vergleich zu der Familie, bei der wir waren, gut, und es gibt natürlich immer etwas Besseres, aber daran sollte man nicht immer denken.

Sl_15
Aperture: 2
Camera: HTC U11
Iso: 536
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